Herz aus Glas

Am Anfang war das Feuer. 

Gut für den Menschen, der die Flammen nutzte, um irgendwann Quarzsand und viel Kreativität miteinander zu verschmelzen. Die Geburtsstunde eines völlig neuen, formbaren Materials. Das älteste handgemachte Glas stammt aus der Zeit um 3500 vor Christus – gefunden im Vorderen Orient. Und kaum ein anderer Stoff hat im Laufe der Jahrhunderte Zierde und Zweck so untrennbar miteinander verbunden wie Glas. Wer sich der Herstellung der transparenten Masse verschrieben hat, muss ein Meister seines Fachs sein – und weiß besser ganz genau, was er da macht. Ein falscher Handgriff, eine unbedarfte Bewegung – schon liegt das Werkstück buchstäblich in Scherben. Die Kunst der Glas-Gestaltung ist heute eine aussterbende Handwerkstradition – in Schleswig-Holstein beherrscht nur noch eine Handvoll Könner diese Kunst. Auf Sylt ist sie noch quicklebendig. 

Das Atelier des fragilen Handwerks befindet sich allerdings an einem Ort, an dem man es am allerwenigsten erwartet: im Keitumer Bahnhof, nur ein paar Meter von den Gleisen entfernt. Alle paar Minuten halten hier tonnenschwere Auto-, Personen- und Güterzüge, um nach kurzem Halt wieder ratternd davonzudonnern. Ein ungewöhnlicher Ort für eine Kunst-Manufaktur. Ein Ort für Individualisten. Genau hier sitzt Antje Otto täglich in ihrem Glashaus. Es dient als Schauraum, Shop und Werkstatt. In der ehemaligen Güterhalle ist jeder willkommen – mit einer Ausnahme: Ein “KLIRR!!!” hat hier striktes Hausverbot. 


Ein “KLIRR!!!” hat hier striktes Hausverbot.


Die Sonne steht günstig an diesem späten Herbst-Nachmittag. Als wir das Atelier betreten, werden Kindheits-Erinnerungen wach. Fast scheint es so, als stünden wir unvermittelt in einem überdimensionierten Kaleidoskop. Das schräg durch die Fenster einfallende Licht bricht sich in hunderten farbigen Perlen, Bechern und Skulpturen – und lässt die komplett in Weiß gehaltenen Wände und Galeriesockel in sämtlichen Regenbogen-Farben erstrahlen. Eine Stimme reißt uns charmant aus unserem Lichtrausch. “Schaut euch in aller Ruhe um. Ich bin gleich bei euch.” In der hinteren Ecke der kleinen Halle löscht Antje Otto die Brenner-Flamme. Unsere erste Begeisterung blieb nicht unbemerkt. Mit sichtlicher Freude kommt die Glas-Gestalterin lächelnd auf uns zu. “Moin. Fühlt euch ganz wie Zuhause. Was wollt ihr denn wissen?”

Der frisch aufgebrühte Tee schmeckt richtig lecker. Wir sind uns nicht ganz sicher, ob es wirklich nur an der Mischung liegt, oder ob die wunderschönen, handgemachten Gläser ihren Teil zum Genuss beitragen. Die verzierten Trinkgefäße stammen eindeutig aus Meisterhand. “Nahezu jeder in meiner Familie, ob mütterlicher- oder väterlicherseits, hat sich schon lange vor mir dem Glas verschrieben. Die Leidenschaft ist mir quasi in die Wiege gelegt worden. Meine Mutter ist gelernte Glasmaler- und Glaser-Meisterin, mein Vater hat Glasapparatebau gelernt und die Bauglaserei meiner Mutter geleitet. Mein Großvater war und mein Onkel ist bis heute Dozent an der Glas-Fachschule im hessischen Hadamar.“

Wir kommen ins Plaudern. So klar, wie es die Familien-Tradition vermuten lässt, war der Weg zur eigenen Glas-Manufaktur auf Sylt für die heute 42-Jährige dann doch nicht. “Hauptsache: keine Büro-Arbeit! Das ist nicht so meins.” Antje versinkt in Erinnerungen und schmunzelt verschmitzt. “Die erste Ausbildung zur Glas- und Porzellan-Malerin habe ich 2004 abgeschlossen. Ein Kommilitone erzählte mir von einem Glasgestalter auf Sylt. Bei dem habe ich mich gleich für ein Praktikum beworben. Eigentlich nur für ein halbes Jahr. Schließlich sind fünf

Jahre daraus geworden. In Hadamar habe ich anschließend noch meinen staatlich geprüften Glastechniker im Fachbereich Glasgestaltung und den Glaser-Meister gemacht.”

Nach der Rückkehr in ihre Heimatstadt Malente und drei Jahren Selbständigkeit erhielt die frisch gebackene Glas-Gestalterin 2015 einen zukunftsweisenden Anruf: Ihr Praktikums-Ausbilder liebäugelte mit einer räumlichen Veränderung und hatte Antje als Nachfolgerin für sein Sylter Atelier ausgeguckt. “Da habe ich fast sofort zugesagt – glasklar!” Antje lacht. “Die Rückkehr nach Sylt war ein bisschen wie nach Hause kommen. Endlich konnte ich die Welt mit meiner Glaskunst von meiner Lieblingsinsel aus befeuern. Ein wahr gewordener Traum.” Der Tee ist mittlerweile ausgetrunken. Antje nickt in Richtung der leeren Gläser. “So, dann zeig ich euch mal, wie man so was macht.”


“Die Leidenschaft ist mir quasi in die Wiege gelegt worden.“


Zurück am geliebten Werktisch. Jetzt ist Showtime. Für die passende Untermalung übernehmen Antjes Handy-Boxen die Beschallung mit sanften Klängen. Fast schon so was wie ein Ritual. “Generell brauche ich Ruhe. Die Arbeit an der Flamme ist meditativ. Heavy Metal könnte ich hier jetzt nicht gerade gebrauchen. Eher etwas Sanftes – Blues oder Fleetwood Mac. Anders klappt es nicht. Mein Freund arbeitet mit Leder, stellt Taschen, Gürtel und andere Dinge her. Im Sommer hat er hier einmal seine Lederarbeiten gemacht. Da bin ich bei jedem Hammerschlag zusammengezuckt.”

Den ganzen Artikel findet Ihr in unserem JustSylt Wintermagazin