EIN JAHR GEWALTIG

Wer in der Geschichte der Menschheit einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat, bekommt oft schon zu Lebzeiten einen Namens-Zusatz verpasst, der für die Nachwelt untrennbar mit der historischen Figur verbunden bleibt: Katharina die Große, August der Starke, Iwan der Schreckliche oder die schöne Helena von Troja sind nur einige Beispiele. Auch auf Sylt gibt es eine solch mächtige, kraftvolle und respekteinflößende Figur, die den Alltag der Einheimischen nachhaltig prägt. Die Insulaner nennen sie ehrfürchtig “Der Blanke Hans”. Und nein, damit ist kein älterer Herr gemeint, der am FKK-Strand ungeniert blankzieht. Das Synonym steht für die stürmische, ehrfurchtgebietende Nordsee. 

Der Blanke Hans ist auf Sylt allgegenwärtig – und das überrascht bei einer Insel nicht sonderlich. Denn egal in welche Himmelsrichtung man sich bewegt, stößt man bereits nach kurzer Wegstrecke unweigerlich auf die scheinbar endlosen Wassermassen des nordöstlichen Atlantiks. Die Nordsee ist einzigartig, schön und kraftvoll – und gleichzeitig verbirgt dieser Natur-Koloss ein empfindliches Öko-System, das im Wechsel von Ebbe und Flut alle 12 Stunden in Teilen freigelegt wird. Dem Meer, dem Watt und ihrem Schutz haben die Sylter einen ganz besonderen Gebäude-Komplex gewidmet. Nur einen Steinwurf vom UNESCO-Weltnaturerbe entfernt und unweit des Lister Hafens liegt das Erlebniszentrum Naturgewalten. Das Konzept fasziniert im neuen Gewand seit 2009 nicht nur etwa 70.000 interessierte Besucher jährlich – auch Experten und freiwillige Helfer vom Festland stehen Schlange, um die Forschung, den Schutz und das Infotainment rund um den Blanken Hans aktiv zu unterstützen. 

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Wir treffen Marvin Dittmann bei der Gummistiefel-Ausgabe. Die liegt in dem kleinen Hof auf der Rückseite des imposanten blauen Naturgewalten-Gebäudes. Der 20-jährige begrüßt uns gut gelaunt, wirkt aber auch ein kleines bisschen nervös. “Einen besseren Tag hättet Ihr euch nicht aussuchen können: Heute ist meine erste öffentliche Wattführung. Okay, die zweite, um genau zu sein. Die erste war eine Schüler-Gruppe.” Seit Anfang September ist Marvin Teil des Naturgewalten-Teams, leistet im Erlebniszentrum seinen Bundesfreiwilligen-Dienst. Für die heutige Wattführung ist der gebürtige Ostwestfale gut vorbereitet und wurde in seinen ersten zweieinhalb Monaten eingehend geschult. Ganz auf sich allein gestellt ist er trotzdem nicht. Für den Fall, dass es Probleme geben sollte, begleitet ihn eine erfahrene Kollegin. 

Diane Seidel übernimmt die Rolle des hilfreichen Schattens. Seit 2004 hat sie sich ganz und gar der Nordsee verschrieben und ist in den Naturgewalten für die Ausstellungsleitung und naturkundliche Führungen zuständig. Heute bleibt sie im Hintergrund und überlässt Marvin die komplette Exkursions-Leitung. “Die Freiwilligen gehören zum Team und werden bei uns je nach Neigung eingesetzt. Für uns sind sie eine unglaubliche Bereicherung. Die jungen Leute bringen ganz unterschiedliche Backgrounds mit und haben ganz verschiedene Blickwinkel auf unser gemeinsames Projekt. Marvin hat sich schon früh bewährt. Ich greife nur ein, wenn er eine Teilnehmer-Frage mal nicht beantworten kann. Das dient auch der Qualitätssicherung, schließlich handelt es sich hier um zahlende Gäste.” Elf Euro kostet die zweistündige Entdecker-Tour ins Watt pro Person. Die Erwartungshaltung ist dementsprechend hoch.

Neun Uhr dreißig – es ist kalt und diesig. Eine Stunde vor Niedrigwasser startet die 16-köpfige Gruppe in Richtung Wasserkante. Vorher gibt es von der Profi-Führerin noch einen wichtigen Tipp: “Die Zehen in den Gummistiefeln zwischendurch unbedingt bewegen, sonst werden die kalt – und das kann sehr unangenehm werden. Vor allem werden die dann auch nicht wieder warm!” Jetzt übernimmt Marvin. Mit seiner geschulterten Forke führt er den Trupp der Gummistiefel-Träger an. Nach rund hundert Metern ist der erste Haltepunkt erreicht.

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Den ganzen Artikel findest du im Just Sylt Wintermagazin.